Über Elektroscooter lässt sich vortreffliche diskutieren: Über ihren verkehrlichen Nutzen, ihre Auswirkungen auf das Stadtbild, ihren ökologischen Fußabdruck oder die Arbeitsbedingungen der sogenannten Juicer. Und um nichts davon soll es hier gehen.

TL;DR: Die Rest-Kilometerangaben der Scooter werden anhand definierter Formeln errechnet – meist serverseitig (lime, bird, bolt), manchmal auch clientseitig in der App (tier). Die konkreten Formeln unterscheiden sich zwischen den Anbietern, aber auch zwischen den Scooter-Type innerhalb eines Anbieters. Die meisten arbeiten mit linearen Formeln, lime bei einem Modell mit quadratsichen Formeln. Sie berücksichtigen damit augenscheinlich NICHT den tatsächlichen Zustand des Akkus – also die mit dem Alter geringer werdende Gesamtkapazität – ebenso nicht Umgebungsvariablen (wie die Außentemperatur).

Derzeit tummeln sich vier E-Scooter-Anbieter im Wiesbadener Stadtgebiet: Platzhirsch tier (immerhin mit knapp über 1.000 Scootern in Mainz und Wiesbaden vertreten), lime mit knapp 200 Fahrzeugen in Wiesbaden, bird mit knapp 250 Scootern und seit wenigen Tagen bolt mit derzeit knapp 150 Scootern. Anbieter wind hat sich bereits wieder zurückgezogen.

Reichweite kann nur eine Schätzung sein

Sie alle haben eines gemeinsam: In ihren Apps werden die verbleibenden Reichweiten der Akkus in Kilometern angegeben. Das steht in Kontrast zu früheren Versionen der jeweiligen Apps, deren Fokus häufig auf den prozentualen Ladestand lag. Die relative Batterieladung allerdings ist in den Hintergrund gerückt, bleibt bestenfalls angedeutet oder ist ganz verschwunden – zumindest in den Oberflächen der Apps.

Von links nach rechts: Die App-Oberflächen der vier Anbieter tier, lime, bird und bolt. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu existieren, seine E-Scooter-Firma mit genau vier Buchstaben zu benennen.

Das gefällt auch dem Kunden – denn von Interesse ist die Entfernung, die der Scooter noch schafft – nicht der prozentuale Ladestand. Spätestens seit dem Aufkommen verschiedener Scooter mit verschiedenen (oder gar mehreren) Akkus ist eine relative Angabe nicht mehr aufschlussreich.

Doch diese Angabe kann nur eine Schätzung sein – denn die tatsächliche Reichweite ist von vielen Faktoren abhängig. Im Winter ist sei deutlich geringer, bergauf ebenso. Wiederholtes Bremsen und Beschleunigen ist deutlich energiezehrender als konstantes fahren – die Roller gewinnen ihre Bremsenergie (vermutlich1Je nah Bauart der Bremse ist eine Rekuperation auch nicht möglich – die Rückbremse der Scooter von Lime beispielsweise wirkt direkt mechanisch auf den Reifen. Allerdings regeln die Scooter automatisch bei Geschwindigkeiten über 20km/h ab, hier tritt also eine elektronische Bremse – Rekuperation sollte technisch möglich sein, wird aber meinen groben Recherchen zufolge nicht praktiziert. Falls du da mehr weißt, ab in die Kommentare damit!) nicht zurück.

Diese Angabe ist eine Schätzung. Die tatsächliche Reichweite kann variieren und ist abhängig von Temperatur, Fahrverhalten, Gefälle und Wetterbedingungen.

Hinweis in der App TIER Mobility.

Praktische Reichweitenberechnung

Was folgt, ist klassische Datenarbeit: Aufbereitung und Analyse von erhobenen Datenmengen. Dank REST-API sind die Daten der Scooter meist maschinell auslesbar. Oft liefern die so abgefragten Daten mehr Informationen, als in der App-Oberfläche sichtbar – so beispielsweise den exakten Akkustand oder die technische Scooter-Bauart.

bird

Die Stichprobe aus neun europäischen Städten beinhaltet knapp über 1.500 Scooter. Die erfassten Scooter sind in vier Bauformen („Modelle“) ausgeführt: Modell b2, b3, bd sowie rf.

Zusammenhang zwischen Ladestand und Reichweite. Stichprobe aus neun Städten2Frankfurt, Wiesbaden, Berlin, Oslo, Regensburg, Hamburg, Hannover, Verona, Wien. , 1.564 Scooter. Aus mir unbekannten Gründen gibt es keinen einzigen Scooter mit 21% oder 79% Ladestand. Zufall oder technische Gründe?

Auf den ersten Blick offenbart sich ein eindeutig linearer Zusammenhang. Soll heißen: Aus dem Akkustand lässt sich die prognostizierte Reichweite errechnen; innerhalb desselben Ladestandes (in %) gibt es keinerlei Variation (durch z.B. alte, ausgenudelte Akkus). Unterschiede gibt es zwischen den verschiedenen Bauformen: Modell bd schafft bei 100% Akku nur 12,74 Kilometer, Modelle b2 sowie b3 22,98 Kilometer und rf immerhin 24,27 Kilometer.

Erste Näherung

Damit lassen sich die Entfernungen näherungsweise wie folgt berechnen [R² bei allen = 0,999]:

  • Modell bd: Reichweite (m) = 127,37 * Ladestand (%)
  • Modelle b2 und b3: Reichweite (m) = 229,47 * Ladestand (%)
  • Modell rf: Reichweite (m) = 242,71 * Ladestand (%)
Detaillierte Betrachtung

Bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf: So 100%ig linear sind die Zusammenhänge nicht. In den Graphen sind Lücken, optische Sprünge. Und die Intervalle zwischen den Lücken sind innerhalb der jeweiligen Scooterbauformen ähnlich lang.

Die einzelnen Intervalle weisen außerdem eine identische Steigung auf: 261 Meter pro Prozent Akkuladung (bei Modell rf). Nur der absolute Versatz variiert – um jeweils ebenfalls 261 Meter pro Intervall.

Über die Ursache lässt sich von außen nur spekulieren. Eine mögliche Erklärung ist: Die Technik innerhalb des Scooter „rf“ kann bei der Messung der Akku-Ladung keine 100 verschiedenen Füllstände unterscheiden – sondern nur 93. Um 93 diskrete Zustände auf 100% zu verteilen, wurden in regelmäßigen Abständen insgesamt sieben Lücken eingebaut – prozentuale Ladestände, die in der Anzeige einfach übersprungen werden.

Modell rf (lime). Innerhalb eines Intervalls sind die Reichweiten streng linear berechnet, die Lücken/Sprünge (rot) sind gleichmäßig verteilt. Die Reichweiten im grün markieren Abschnitt sind aus den Daten extrapoliert; in der APP werden Scooter mit Ladestand unterhalb 10% nicht angezeigt

lime

In der Stichprobe der lime-Scooter finden sich 654 Scooter aus sieben Städten.3Mainz, Wiesbaden, München, Nürnberg, Mannheim, Bielefeld und Oldenburg. Bis auf wenige Ausnahmen in München gehören allesamt der Generation „v3“ an (v3.0, v3.4, v3.8). Da sich die geschätzten Reichweiten nicht unterscheiden, liegt der Verdacht nahe, dass bei v3.4 und v3.8 gegenüber v3.0 nicht die Batterie verändert wurde. Lediglich in München verkehren (einige) Scooter der Generation v5 mit erheblich größerer Gesamtreichweite.

Die (wenigen, erfassten) Scooter der fünften Generation zeigen ein strikt lineares Verhalten, die dritte Generation scheinen eine quadratische Berechnung zu nutze. Sollte diese dem realen Fahrverhalten des Scooters entsprechen, hieße das: Um den Scooter von 100% auf 90% runterzufahren, muss eine größere Entfernung zurückgelegt werden als von 30% auf 20%:

  • Generation v5: Entfernung (m) = 850 * Ladestand (%)
  • Generation v3: Entfernung (m) = 1,9 * Ladestand (%)^2 + 130,7 * Ladestand (%).

Rohdaten

Kategorien: Hintergründemiscellaneous

mathias

Aufgewachsen in Berlin, seit über einem Jahrzehnt Wahl-Wiesbadener. Eigentlich Nordost, im Herzen aber Westend. Regelmäßiger Radler und Carsharing-Nutzer, (zu häufig) auch E-Scooter. Ehem. Verkehrsplaner (SGV). Faible für Daten, Karten und Grafiken.

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[…] Berechnung beruht auf der Tatsache, dass für viele E-Scooter eine nahezu lineare Abnahme der Kapazität mit gefahrener Distanz vorliegt. Diese vereinfachte Kalkulation nutzen auch die […]

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