Immer wieder fällt in Diskussionen um die Umweltspuren auf dem 1. Ring die Aussage, dass Fahrradfahrer1Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter. und Busse nicht auf eine gemeinsame Spur gehörten und, dass Radfahrer viel besser auf dem Mittelstreifen oder auf den Nebenstraßen aufgehoben wären. Zum Vorschlag „Radweg auf dem Mittelstreifen“ ist auf diesem Blog ja bereits ein Artikel erschienen. Heute möchte ich mich mit dem zweiten Vorschlag „Radfahren auf den Nebenstraßen“ kritisch auseinander setzen.

Von der Wohnung zum Hauptbahnhof

Warum ich meine etwas dazu sagen zu müssen?

Ich bin Pendler. Wenn ich Pandemie-bedingt nicht gerade von zu Hause aus (im Rheingauviertel) arbeite, liegt mein Dienstort in Mainz. Den Weg dorthin lege ich entweder

  1. mit dem ÖPNV (Bus und Bahn)
  2. mit dem Fahrrad oder
  3. kombiniert mit beiden Verkehrsmitteln zurück.

Häufig nutze ich bei den Optionen 1) und 3) für einen Teil der Strecke die S-Bahn- bzw. Regionalbahnverbindung zwischen Wiesbaden und Mainz. Dafür muss ich logischerweise morgens vom Rheingauviertel zum Wiesbadener Hauptbahnhof gelangen. Der direkte Weg dorthin führt über den 1. Ring.

Nebenstraßen als Ausweichroute

In der Vergangenheit gab es auf dem 1. Ring keine gesonderte Fahrradspur, sodass man als Radfahrer den rechten Fahrstreifen mit den Autos teilen musste. Beim hohen Verkehrsaufkommen zu den Hauptzeiten des Berufsverkehrs habe ich mich aus zwei Gründen dort überhaupt nicht wohl gefühlt:

  1. Unsicherheitsgefühl aufgrund der Vielzahl an überholenden PKW (zumal nicht immer der Mindestabstand zu mir eingehalten wurde)
  2. „Dicke Luft“ durch Autoabgase

Beides ist aus meiner Sicht nicht nur subjektiver Eindruck, sondern auch objektiv belegbar. So landete Wiesbaden 2018 im Ranking der Städte zwischen 200.000 und 500.000 Einwohnern bekanntlich auf dem 25. und damit letzten Platz (vgl. ADFC Fahrradklimatest 2018). Das war leider kein Ausrutscher: Bereits 2016 konnte Wiesbaden den Titel „fahrradunfreundlichste Stadt Deutschlands“ einheimsen. Auch das Thema Luftbelastung in Folge des Autoverkehrs zu den Stoßzeiten ist seit Jahren bekannt (vgl. unter anderem die Messergebnisse des HLNUGs).

Das sind übrigens keine Kamelhöcker sondern die beiden gemittelten Tageshöchstwerte der NO2-Konzentration an den Messstationen der Innenstadt – warum die Höchstwerte wohl ausgerechnet zur Stoßzeit des Berufsverkehrs erreicht werden? (Quelle: Vortrag „Stickstoffdioxid-Belastung in Wiesbaden“, Dr. Angelika Broll, HLNUG, 23.11.2016)

Kurzum: Die beiden oben genannten Gründe haben dazu geführt, dass ich den 1. Ring bisher gemieden habe und stattdessen auf diese Alternativstrecke ausgewichen bin:

Über die Nebenstraßen zum Hauptbahnhof (Quelle:  https://routing.openstreetmap.de)

Die Strecke führt eben genau über jene als Alternative zur Umweltspur angepriesenen Nebenstraßen. Aber sind die Nebenstraßen wirklich eine ernstzunehmende Alternative?

Nebenstraßen vs. Umweltspur – Showdown am 1. Advent

1. Advent, trockenes Wetter, kuschelige 5 Grad auf dem Thermometer – genau die richtigen Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb zwischen den beiden Kontrahenten. Mit von der Partie: mein Fahrrad (wie immer ohne elektrischen Antrieb), mein Smartphone samt GPS-Tracker sowie meine Muskelkraft.

Durchgang 1: Die Nebenstraßen

Zunächst steigen die Nebenstraßen in den Ring:
Von der Kreuzung Marcobrunnerstraße/Eltviller Straße geht es zunächst über Kopfsteinpflaster zur Niederwaldstraße. Nach einem kurzen asphaltierten Abschnitt auf der Niederwaldstraße folgt nach Überquerung der Schiersteiner Straße (selbstverständlich mit Nutzung der Ampel) erneut ein Abschnitt mit Kopfsteinpflaster (unterer Teil der Niederwaldstraße, Kleiststraße. Scheffelstraße).

Kopfsteinpflaster sieht schön aus, ist dafür aber wenig radfahrfreundlich

Die letzte Etappe geht dann wieder über Asphalt. Die Nebenstraßen haben heute Glück: in den schmalen Einbahnstraßen kommt mir kein einziges Fahrzeug entgegen und nur an einer Ampel an der Kehrtwende auf der Biebricher Allee muss ich kurz mal die Füße von den Pedalen nehmen. Ansonsten habe ich freie Fahrt und erreiche mein Fahrtziel den westlichen Seiteneingang des Wiesbadener Hauptbahnhofs.

Durchgang 2: Die Umweltspur

Beim zweiten Durchgang gelten natürlich die gleichen Rahmenbedingungen: gleicher Start- und Zielort, gleiche Fahrtrichtung und der identische Dreiklang aus Vehikel, Messgerät und Fahrer, wie in der ersten Runde. Einziger Unterschied: Es geht über die Umweltspur auf dem 1. Ring:

Zunächst geht es über die Marcobrunnerstraße Richtung Ringkirche. An der Einfahrt auf den ersten Ring folgt eine erste Zwangspause: Ein Linienbus (auch noch ein besonders langer Gelenkbus :-)) sowie sechs nachfolgende PKW bestehen auf Ihrer Vorfahrt. Dann geht’s weiter, jedoch mit zwei weiteren Unterbrechungen an der Fußgängerampel an der Rüdesheimer Straße sowie an der Kreuzung Schiersteinerstraße. Schon jetzt musste ich öfter anhalten, als bei Durchgang 1… könnte also ein enges Rennen werden. Immerhin geht es danach in einem Rutsch bis zur Ampel am Gutenbergplatz weiter. Von dort aus geht es dann ohne weiteren Zwischenstopp direkt zum Bahnhofsvorplatz wieder an den Seiteneingang West.

Die Ergebnisse

Danach ging es erneut nach Hause an den Rechner zur Auswertung und Punktevergabe. Die Ergebnisse im Detail:

Geschwindigkeitsprofil Nebenstraßen (Quelle: App OsmAnd)
Geschwindigkeitsprofil Umweltspur (Quelle: App OsmAnd)
Runde 1: NebenstraßenRunde 2: Umweltspur
Distanz1,7 km1,55 km
Dauer7:56 min5:47 min
…davon in Bewegung7:23 min4:34 min
Durchschnittsgeschwindigkeit13,8 km/h19,9 km/h
Höchstgeschwindigkeit23,0 km/h (Klingholzstraße)35 km/h (1. Ring Höhe Landeshaus)
Ampeln1. Querung Schiersteiner Straße
2. Am Landeshaus / Biebricher Allee
3.  Kehrtwende Biebricher Allee
1. Rüdesheimer Straße
2. Schiersteiner Straße
3. Wielandstraße
4. Gutenbergplatz,
5. Landeshaus
6. Biebricher Allee
Anteil asphaltierte StreckenCa. 60 %Nahezu 100 %
Fahrkomfort (subjektiv)AusreichendGut
Gegenüberstellung der wesentlichen Ergebnisse aus der Messung mit OsmAnd

Persönliches Fazit

Trotz einiger Unterbrechungen (einmal Vorfahrt, dreimal rote Ampel) hat also die Umweltspur beim heutigen Wettbewerb deutlich das Rennen gemacht.

Für mich hat die Umweltspur insbesondere bei folgenden Punkten überzeugt:

  1. Geschwindigkeit
    Über zwei Minuten war ich in der Gesamtdauer auf der Umweltspur schneller – bei der reinen Fahrtzeit waren es sogar fast 3 Minuten. Und dass, obwohl die Nebenstraßen heute für meine Begriffe einen wirklich guten Tag erwischt haben: an Werktagen dürfte man aufgrund des häufig anzutreffenden Gegenverkehrs in den Einbahnstraßen im Dichterviertel nochmal ein Stück langsamer sein und vielleicht auch die ein oder andere rote Ampel mehr bekommen.
  2. Komfort
    Es liegt auf der Hand, dass es sich auf dem Asphalt auf dem 1. Ring wesentlich komfortabler fährt als auf dem Kopfsteinpflaster der Nebenstraßen –  und für mich lautet die morgendliche Herausforderung ja auch Wohnung-Büro und nicht Paris-Roubaix ;-).
    Hinzu kommt die kürzere Wegstrecke, die man auf dem 1. Ring im Vergleich zu den Nebenstraßen zurücklegen muss (direkter Weg).
  3. Sicherheit
    Bei nassem Wetter kann Kopfsteinpflaster für Radfahrer gefährlich rutschig werden. Hinzu kommt ein mögliches Risiko durch entgegenkommende Fahrzeuge in engen Einbahnstraßen, sowie durch die parkenden Autos (Thema „plötzliches Aussteigen“). Auf der Umweltspur herrscht hingegen viel Platz und es gibt durchgängig einen fahrradfreundlichen Straßenbelag.

Die Nebenstraßen sind hier zumindest aus meiner Sicht keine gute Alternative – abgesehen von der langsameren Geschwindigkeit fällt hier vor allem das Kopfsteinpflaster negativ ins Gewicht.

Weiterhin bin ich der Meinung, dass schnelles und komfortables Vorankommen kein Exklusivrecht für den motorisierten Individualverkehr sein darf – gerade dann nicht, wenn man mehr Menschen zum Umstieg auf das Fahrrad bewegen möchte.

Neben den Fahrradfahrern kommen die Umweltspuren zudem den Nutzern des Wiesbadener Busverkehrs zugute. Wie eingangs erwähnt nutze ich gerne beide Verkehrsmittel. Für beide ist die Umweltspur meiner Meinung nach nicht nur eine sinnvolle Weiterentwicklung des Wiesbadener Stadtverkehrs, sondern schlichtweg nicht mehr wegzudenken.

Wie seht Ihr das? Ich freue mich über Eure Kommentare.


Christian

Familienvater, seit 2013 Bewohner des Rheingauviertels. Lieblingsfortbewegungsmittel: "Schusters Rappen", Fahrrad, Bus & Bahn sowie hin und wieder das Carsharing. Früher war ich auf ein eigenes Auto angewiesen - heute lebt es sich für mich ohne PKW einfach entspannter. Beruf: Softwareberater. Freizeitaktivitäten: Familie, Gärtnern und E-Bass.

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thomas

Die Strecke kenne ich gut, vielen Dank für die Messung, die auch meinem Bauchgefühl entspricht. Alternativ bin ich auch schon kopfsteinpflastervermeidend über den 2. Ring / Kloppstockstraße gefahren, als die Fußgängerampel der Schiersteiner noch so geschaltet war, dass man sich in der „Für-Alle-Rotphase“ vor die losstürmende Blechlawine setzen und sich gut links einordnen konnte.Geht heute nicht mehr. Ich würde eine Rücknahme der Umweltspur als echten Verlust und Affront betrachten, Alternativrouten durch Nebenstraßen gibt es nicht, zumindest nicht für Alltags- und nicht Freizeitfahrer.

Ludwig

Erstmal möchte ich viel Lob abladen für diese Seite, auf die ich zum ersten mal gestoßen bin. Sie wirkt professionell gemacht, das ist schon besonders. Man wünschte sich mehr Bekanntheit.
Zum Artikel selbst möchte ich anmerken, dass ich den Gesundheitsaspekt vermisse, denn ich weiß als täglich Radfahrer, dass man entlang von Haußtstraßen viel Autoabgas, also vor allem Stickoxide und Staub inhalieren muss. Das kann man riechen und es macht nicht keinen Spaß.

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