Was eine lebhafte Debatte! Nicht unbedingt in dem Umfang notwendig, aber dennoch illuster anzusehen. Umfangreiche Diskussionen führten dazu, dass nach vier Stunden erst vier Tagesordnungspunkte geschafft waren.
Am 10. Dezember 2020, 16 Uhr, tagte die Stadtverordnetenversammlung Wiesbaden. Zur vollständigen Tagesordnung geht’s hier lang: (Link).
Aufgewachsen in Berlin, seit über einem Jahrzehnt Wahl-Wiesbadener. Eigentlich Nordost, im Herzen aber Westend. Regelmäßiger Radler und Carsharing-Nutzer, (zu häufig) auch E-Scooter. Ehem. Verkehrsplaner (SGV). Faible für Daten, Karten und Grafiken.
Coronabedingt waren die Reihen der Fraktionen trotz des großen Saales im Kurhaus bereits ausgedünnt. Aber sie sollten noch dünner werden. Ein Sitzungsmitglied war zwar durch Attest von der Maskentragepflicht befreit – die umliegend sitzenden Stadtverordneten wünschten sich aber etwas mehr Abstand. Die simple Lösung, sich umzusetzen und damit einfach ein paar Tische Abstand zu allen anderen Stadtverordneten zu halten, wurde verweigert. Die Diskussion mit dem Präsidium startete freundlich, ging über bestimmt und endete mit ungewohnt strengen Anweisungen seitens der Stadtverordnetenvorsteherin. In der Zwischenzeit verließ mindestens ein Stadtverordneter aus Vorsicht (oder Protest?) die Sitzung, bevor sie begann. Die Folge: Einhelliges Kopfschütteln, 15 Minuten vollkommen unnötig verbrannte Zeit und eine auf Streit gebürstete Grundstimmung.
Es war der eigentlich harmlos klingende Antrag der CDU („Demokratie bewahren und schützen„), der später ein echtes Redegefecht entfesselte. Es startete harmlos mit einer Diskussion über den Unterschied, jemandem „Vertrauen„, „volles Vertrauen“ oder „blindes Vertrauen“ auszusprechen. Nur wenige Minuten nach einem leidenschaftlichen Plädoyer der FDP über die Funktion der Opposition in Krisenzeiten wurde Ingo v. Seemen (als Mitglied der ‚Rechtsnachfolgepartei der SED‚) das Recht abgesprochen, andere über Demokratie zu belehren.
Die Erwiderung kam prompt, schließlich sei auch die Ost-CDU Block-Partei gewesen und die West-CDU ohnehin mehroderweniger-Nachfolgerin der Zentrums-Partei, die in der Weimarer Republik und dem 3. Reich durchaus eine Geschichte hätten. Es folgte ein Exkurs über den NSU, Rücktrittsforderungen aller CDU-Landesinnenminister und schließlich eine Diskussion darüber, welche Bevölkerungsteile eigentlich bei den Querdenker-Demos mitlaufen.
Die Debatte gipfelte, als Dr. Lork (AfD) auf die fehlende Übersterblichkeit der Corona-Pandemie hinwies. Im Gegensatz zu vielen anderen könne er ja Statistiken lesen, er sei schließlich Naturwissenschaftler.
Anekdoten aus der Fragestunde
Nach Aussetzer im November startete die StVV mit der gewohnten Fragestunde – bei der auch einige geschobene Fragen aus dem September aufgerufen wurden.
Effekte der Umweltspur
Nach den Pressemeldungen zu ersten Verbesserungen im Busverkehr durch die neue Umweltspur im September interessierte sich die SPD für Details: Wie wurden Komfort- und Zeitgewinne gemessen? Welche konkreten Verbesserungen haben sich ergeben? Und wie wurden die Corona-bedingten Veränderungen des Verkehrs bei den Messungen berücksichtigt?
Die Antwort aus dem Verkehrsdezernat blieb – leider – generisch. Zwar konnte die planmäßige Fahrtzeit zwischen Schiersteiner Straße und Hauptbahnhof reduziert werden. Die meiner Meinung nach viel relevantere Aussage über Veränderungen der Pünktlichkeit blieb abstrakt. Schließlich könne der Effekt der Umweltspur noch nicht abschließend bewertet werden, solang die Spur noch nicht fertig ist. Eine Reihe weiterer Baustellen auf dem 1. Ring (DIGI-V und Versorgungsleitungen) ließen aktuell keine belastbare Bewertung zu. Daran schwächelte auch die Nachfrage der FDP, ob es Erhebungen über die Auswirkungen der Umweltspur auf den MIV-Fluss und die Schadstoffbelastungen gäbe. (Zweiteres könnte sich die FDP allerdings über die öffentlich einsehbaren Messwerte der Station Ringkirche selbst beantworten.)
Förderung von Lastenrädern
Die Verteilung im Sommer diesen Jahres ausgelaufene, städtische Förderung zur Anschaffung von Lastenrädern interessierte die SPD im Detail.
Aus dem 100.000 Euro schweren Topf wurden 106 Anschaffungen gefördert. 88 dieser Anschaffungen waren von Privatpersonen, 18 Anträge waren gewerblicher Natur. 82 Antragssteller kamen aus den Innenstadt-Postleitzahlenbereichen, 24 aus den äußeren – insbesondere den östlichen. Die meisten, geförderten Lastenräder besaßen einen Elektroantrieb – immerhin drei Sportskanonen schafften sich ein rein durch Muskelkraft angetriebenes Lastenrad an.
TOP 3 I – Schwalbacher Straße
Endlich eine lebhafte Debatte! Knapp über eine Stunde beanspruchte die Debatte rund um den Antrag Trennwirkung der Schwalbacher Straße brechen. Insgesamt dreizehn Mal meldeten sich die Fraktionen zu Wort. Dass sich zusätzlich gleich drei Dezernenten (Kessler, Kowol, Manjura) zu Wort meldeten, zeigt die Komplexität der Debatte.
25.000 Fahrzeuge finden ihren Wege von & nach Wiesbaden über die B415 aus/in Richtung Taunus und nutzen dabei die Schwalbacher Straße. Dort vermengt mit innerstädtischen Verkehren wälzen sich täglich 40.000 Fahrzeuge über die Schwalbacher Straße – da erblassen 40% der deutschen Autobahnen vor Neid. Auch spurentechnisch steht die Schwalbacher mit ihren (je nach Abschnitt) vier bis acht Spuren einer Autobahn in nichts nach.
Meine Vision ist, dass die Wellritzstraße und der Sedanplatz 2025 in den Reiseführern stehen. (…) Manchmal darf man groß denken – und wir denken hier groß.
Christiane Hinninger über das Entwicklungspotenzial des Inneren Westends.
Die trennende Wirkung zwischen Innenstadt und dem inneren Westend ungeleugnet – auch wenn die von Christiane Hinninger angegebenen 03:57 Minuten, die zur Querung notwendig wären, großzügig aufgerundet wirken. Dieses Stilmittel sei ihr aber nachgesehen – schließlich war sie es, die als damals zuständige Dezernentin den Abriss der Hochstraße 2001 in der Schwalbacher Straße auf den Weg brachte und damit den ersten, großen Schritt zur Stadtreparatur legte.
Voraussetzung für eine Umgestaltung der Schwalbacher Straße – und das ist die Erkenntnis der letzten Jahrzehnte – ist, nicht weitere Fahrspuren hinzuzufügen, sondern Verkehr zu reduzieren.
Andreas Kowol, Verkehrsdezernent, Grüne.
Seit dem: Im wesentlichen Stillstand. Zwar wurde der Platz der Deutschen Einheit umgestaltet (in dem Zuge verschwand ein halbes Dutzend Bäume, ein Fußgängerüberweg und der Fußgängertunnel zugunsten einer achten Fahrspur – dem Linksabbieger in die Bleichstraße). Doch entgegen vieler Konzepte ist nicht viel passiert: ein ungenutzter, lieblos wirkender Mittelstreifen, keine Querungsmöglichkeit für Fußgänger zwischen Michelsberg und dem Platz der Deutschen Einheit.
Der Bedarf einer zusätzlichen Querung scheint auf jeden Fall gegeben – wie hier zwischen dem Parkhaus City II und der Mauritiusstraße. Findige Bürger verlegten auf dem abschüssigen Grünstreifen sogar behelfsmäßige Gehwegplatten.
Bei aller Sympathie für Fuß- und Radverkehr sollten wir den MIV nicht aus der Gleichung nehmen. (…) Wir möchten, dass Verkehrsplanung mit Sinn und Verstand geschieht.
Sarah Weinerth, verkehrspolitische Sprecherin, begründet den von der CDU geforderten Nachweis der Leistungsfähigkeit der Alternativrouten bei Umgestaltung der Schwalbacher Straße und kassiert dafür Applaus von der FDP.
Behelfsmäßiger Hunde-Auslaufstreifen. Eine Gassi-Box steht, der Weg fehlt aber. Ein offizieller Weg auf den Mittelstreifen, auch zu den dort befindlichen Parkplätzen, fehlt ohnehin – außer man zählt „geh einfach über die Straße“ dazu.
Entlang der Schwalbacher Straße versammeln sich viele Problemzonen – vom Faulbrunnenplatz zum Alten Arbeitsamt – die bisher noch nicht gesamthaft repariert wurden. Es gehe auch um erhebliche Fördergelder von Bund und Land, um Zeitdruck und Deadlines bei der Beantragung, so die einhellige Meinung des Magistrats. Diese dürfe man als Stadt nicht einfach so verstreichen lassen.
Wir beantragen die Überweisung in den Ausschuss für Verkehr. Der Ausschuss tagt im März 2021, das wäre kein großer Zeitverlust.
Denis Seldenreich, verkehrspolitischer Sprecher, AfD.
Anträge aus dem Verkehrsbereich
TO1 | Antrag | Titel | Antragsteller | Bemerkungen |
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I | 20-F-20-0026 | Trennwirkung der Schwalbacher Straße brechen | SPD, Grüne | |
II | 20-F-05-0077 | Eine letzte Chance für meinRad: 5 Euro im Monat, 30 Euro im Jahr | FDP | zuvor im VA angenommen (gegen AfD und LKR) |
II | 20-F-20-0025 | Errichtung eines städtischen Parkhauses an der Klarenthaler Straße (Ergänzungsantrag) | SPD, Grüne | zuvor im VA angenommen (gegen BLW und LKR) |
II | 20-F-21-0055 | Aufgehellter Asphalt in Wiesbaden | SPD, CDU, Grüne | zuvor im VA angenommen (bei Enthaltung AfD) |
II | 20-V-01-0034 | (Sitzungsvorlage) Erhöhung Verkehrszuschuss 2020: Abwicklung Projekt CityBahn/Auswirkungen Corona-Pandemie | Umgesetzt auf TO I | |
II | 20-V-05-0044 | (Sitzungsvorlage) Finanzierung ÖPNV/ESWE Verkehr im Haushalt 2021 (Aktualisierung) | angenommen (gegen FDP und AfD, Enthaltung FW) | |
II | 20-V-05-0045 | (Sitzungsvorlage) Freigabe städtischer Mittel für dringliche Förderprojekte bzw. Luftreinhalteplanmaßnahmen bei ESWE Verkehr | angenommen (gegen AfD, bei Enthaltung FDP & FW) | |
II | 20-V-23-0002 | Errichtung eines städtischen Parkhauses an der Klarenthaler Straße | zuvor im VA angenommen (gegen LKR) | |
II | 20-V-66-0220 | Friedrich-Naumann-Straße/Holbeinstraße – Einrichtung Tempo-30-Zone | angenommen (einstimmig) | |
II | 20-V-66-0311 | Einfahrtssperren – erweitertes Pilotprojekt | angenommen (gegen LiPi & LKR) | |
I | 20-F-08-0071 | Übertragung der Stadtverordnetenversammlung als Livestream | Li&Pi | |
II | 20-F-05-0068 | Integration durch mehr direkte Mitbestimmung | FDP | |