Inhalt und Qualität einiger Anträge ist – gelinde gesagt – diskutabel. Abgesehen von ihrem fragwürdigen Zeitpunkt (durch die umgreifende Pandemie sollen die OBR–Sitzungen eigentlich so kurz wie möglich gehalten werden) stellt sich hier durchaus die Frage, welche Motive hinter den Anträgen stecken.

Geht es hier tatsächlich um die Verbesserung der Situation der Rheingauviertler? Oder wirft der Kommunalwahlkampf seine Schatten voraus? Welche Mehrheit erhoffen sich die Antragssteller dafür im rotgrün dominierten Ortsbeirat? Wird hier auf Abwesenheit anderer Fraktionen spekuliert oder werden trotz der angespannten Lage aussichtslose Anträge eingebracht?

Verkehrshotspot Rheingauviertel

Schön hier, oder?

Das Rheingauviertel bildet mit den anderen Innenstadtbezirken Westend und Mitte den Innenstadtkern; diese drei Ortsbezirke stimmten als einzige mehrheitlich für die CityBahn. Es weist gemeinsam mit ebenjenen Ortsbezirken den niedrigsten Motorisierungsgrad1Der Motorisierungsgrad ist das Verhältnis zwischen der Anzahl privater Kraftfahrzeuge und der Einwohnerzahl. Zuletzt lag er in Wiesbaden bei durchschnittlich 499 PKW pro 1.000 Einwohner. Die Stadtteile unterscheiden sich teils massiv. Wiesbadens auf und ist einer von nur vier Ortsteilen ist (neben Westend und Mitte)2Der vierte Stadtteil ist Amöneburg., in denen der Motorisierungsgrad weiter sinkt. Gleichzeitig liegen mit der Dotzheimer Straße, dem 2. Ring und der Klarenthaler Straße einige der stärkst befahrenen Straßen Wiesbadens im Rheingauviertel, zusätzlich grenzt es mit dem 1. Ring und der Schiersteiner Straße direkt an weitere Stadtautobahnen.

In diesem Spannungsfeld ist es wenig überraschend, dass ein Thema die Ortsbeiratssitzungen wieder und wieder dominiert: Der Verkehr, im Großen wie im Kleinen. So auch bei der aufkommenden Sitzung am 19. November.

Sieben der sieben von den OBR-Fraktionen eingebrachten Anträge drehen sich um Verkehrsthemen. Doch diese sind aus mehreren Gründen pikant. Denn sie sind nicht nur teilweise obsolet, betreffen Orte außerhalb des Rheingauviertels (und damit außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Ortsbeirates) oder argumentieren fachlich falsch. Die Anträge ziehen trotz ihrer fragwürdigen Ziele – entgegen der Bitte des Bürgermeisters – die Sitzung des Ortsbeirates unnötig in die Länge.

Die Anträge der CDU bestechen dabei weder durch Dringlichkeit noch durch Qualität. Sie eint aber die Schlagrichtung: Gegen die Verkehrspolitik des Rathauses. Sie wirken daher eher wie ein Auftakt zur anstehenden Kommunalwahl. Bleibt allerdings zu hoffen, dass die Argumente im Wahlkampf bei aller Gegensätzlichkeit etwas mehr Substanz beinhalten.

Dringende“ Anträge auf Kosten anderer OBR-Mitglieder?

Die massiven Infektionszahlen der Covid-19-Pandemie in Wiesbaden haben auch Auswirkungen auf die Lokalpolitik: Ausfallende Sitzungen, aus gesundheitlichen Gründen fehlende Mandatsträger, notwendiger Umzug in größere Räumlichkeiten, Begrenzung der Zuschauerzahlen oder Streichung von Bürgerfragestunden.

Und so richtete sich Wiesbadens Oberbürgermeister mit einer eindringlichen Bitte an die Ortsbeiräte: Um die Sitzungsdauer kurz zu halten und die ehrenamtlichen Mitglieder möglichst wenig zu gefährden, sollten nur die wirklich notwendigen Anträge auf die Tagesordnungen gesetzt werden. Die meisten Fraktionen kamen dieser Bitte nach.

Vier der sieben Anträge der OBR-Sitzung stammen dabei aus der Feder der CDU Rheingauviertel, zwei weitere vom (nach eigenen Angaben CDU-nahen) fraktionslosen Mitglied Markus Frenz.

Antrag zur Messstation Ringkirche

Böse Zungen behaupten, die Messstation liegt gar nicht im Rheingauviertel.

Mit Antrag 20-O-03-0037 möchte die rheingauviertler CDU den Magistrat auffordern, die Luftmessstation an der Ringkirche zu versetzen.

Im Antrag stellt sie – zunächst korrekt – fest, dass die Messstation an der Ringkirche nicht die gesetzlich geforderten 25 Meter von der nächsten Kreuzung entfernt steht. Die zugrundeliegende gesetzliche Grundlage auf EU-Ebene (2008/50/EG) wurde 2008 verabschiedet. Zwei Jahre später folgte die nationale Umsetzung im Rahmen der 39. BImSchV – da war die Messstation an der Ringkirche bereits 19 Jahre alt.

Messstation Ringkirche irrelevant für Dieselfahrverbot

Als Reaktion auf hat die Stadt Wiesbaden im Jahr 2011 die Messstation an der Schiersteiner Straße in Betrieb genommen. Spätestens seit den Diskussionen um Dieselfahrverbote in Wiesbaden und Frankfurt ab November 2018 ist aber auch öffentlich klar: Die Messwerte der Station Ringkirche sind für die Dieselfahrverbote irrelevant. Marco Kreuter, Sprecher des Hessischen Verkehrsministeriums, stellte im Herbst 2018 klar: Die Messstation [Ringkirche] werde nur weiter betrieben, weil sie als sehr alter Standort ermögliche, langfristige Entwicklungen zu erkennen.

Davon abweichend bedient sich der CDU Antrag einer fachlich falschen Argumentation:

Die fehlerhafte Messung und Dokumentation führt zur Überschreitung der Grenzwerte der Stickoxidbelastung. Aus diesem Grund ist durch fehlerhafte Messwerte, ausgehend von dieser Messstation mit einer Klage der sogenannten Deutschen Umwelthilfe zu rechnen. Die fehlerhaften Werte werden wiederum zur Begründung von Verkehrsbeeinträchtigungen herangezogen, um gerichtliche Dieselfahrverbote zu vermeiden.

CDU Wiesbaden Rheingauviertel, Begründung des Antrags 20-O-03-0037
Messwerte weichen nicht signifikant ab

Neben der Irrelevanz der Messstation Ringkirche für die drohenden Dieselfahrverbote greift diese Argumentation auch an einer zweiten Stelle zu kurz. Denn sie unterstellt, aus dem falschen Standort resultierten systematisch verfälschte Werte. Dabei zeigen die öffentlich einsehbaren Messwerte das Gegenteil.

Die dort (in der Schiersteiner Straße) gefundenen NO2-Jahresmittelwerte sind nahezu identisch zu denen an der Ringkirche. Die Ergebnisse an der Ringkirche sind demnach für die Situation weder unrealistisch hoch noch zu niedrig.

Stellungnahme des HLNUG, November 2011. In: FNP, 21.11.18

Anträge zum Landeshaus, zum 1. und zum 2. Ring

Drei weitere Anträge zum 1. und zum 2. Ring finden sich im Repertoire der CDU. Einer betrifft die Kreuzung am Landeshaus – hier fordert die CDU Rheingauviertel die Aufhebung der Abbiegebeschränkungen mit Anpassung der Ampelschaltung. Diese Kreuzung liegt an der Grenze zwischen Mitte und Südost und damit fernab des Zuständigkeitsbereiches des Rheingauviertler OBR.3Über den damit begründeten Rückstau an der Ringkirche ließe sich hier vielleicht noch eine Verbindung konstruieren. Der Antrag ist allerdings auch längst obsolet – der Verkehrsausschuss hat diese Kreuzung bereits am 05. November behandelt und den Magistrat mit der Umsetzung einer konkreten Lösung beauftragt.4Geprüft und voraussichtlich umgesetzt wird eine vom Autor dieses Blogs vorgeschlagene Lösung, die die Verlegung des Rechtsabbiegers an die Biebricher Allee beinhaltet.

Auch die im zweiten Antrag geforderte Rücknahme der „Verkehrsbeeinträchtigungen entlang des 1. Ringes, die im Zuge der Einrichtung sogenannter Umweltspuren und Fahrradwegen“ weist ähnliche Knackpunkte auf: Bereits vom Verkehrsausschuss behandelt und zum Teil in anderen Stadtteilen. Allerdings zeigt die Formulierung der Begründung auch eine selektive Wahrnehmung der Ursachen der Verkehrsprobleme. Und der Autor des Antrags fährt vermutlich selbst kein Rad auf dem 1. Ring – derartige Erfahrungen, wie hier unterstellt werden, kenne ich aus dem realen radeln auf dem 1. Ring jedenfalls nicht.

Die Formulierung spricht aber für sich, denke ich.

Busse werden durch langsame Radfahrer auf der sogenannten Umweltspur am Fortkommen behindert.5Die ESWE hat zuletzt die positiven Effekte der Umweltspur auf die Pünktlichkeit bestätigt. Fahrradfahrer werden zudem durch dicht auffahrende Busse „gehetzt“ und gefährdet. (…)

Den ca. 100-200 Radfahrern, die neben der Umweltspur ohnehin die Fußgängerwege benutzen, stehen nach Verkehrszählungen 70.000 Pkw entgegen, die in dem Verkehrsraum unangemessen behindert werden.

Antrag 20-O-03-0038, 10.11.2020, CDU OBR Rheingauviertel

Vollständige Liste der Anträge

AntragInhaltVerfasser
20-O-03-0034Einrichten Anliegerstraße Königsteiner StraßeGrüne
20-O-03-0035Aufhebung der Netzsperre im Künstlerviertel OBM Frenz
20-O-03-0036Halteverbotsschild oder Markierung für den Bücherbus an der Haltestelle im Künstlerviertel OBM Frenz
20-O-03-0037Verlegung der Luftmessstation Rheinstraße/Kaiser-Friedrich-RingCDU
20-O-03-0038Verkehrsbeeinträchtigungen entlang des 1. Rings wieder rückgängig machenCDU
20-O-03-0039Verkehrssperre am Landeshaus in Richtung Biebricher Allee wieder aufheben CDU
20-O-03-0040Nächtliches Parken auf dem 1. und 2. Ring wieder ermöglichen CDU
Zur kompletten Tagesordnung: https://piwi.wiesbaden.de/sitzung/detail/2367655/tagesordnung/oeffentlich

OBM Markus Frenz schaffte den Sprung in den Ortsbeirat als Nachrücker auf der Liste der SPD, wollte dann zur CDU wechseln, ist nun aber fraktionslos.

mathias

Aufgewachsen in Berlin, seit über einem Jahrzehnt Wahl-Wiesbadener. Eigentlich Nordost, im Herzen aber Westend. Regelmäßiger Radler und Carsharing-Nutzer, (zu häufig) auch E-Scooter. Ehem. Verkehrsplaner (SGV). Faible für Daten, Karten und Grafiken.

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