In einer über sechsstündigen Marathonsitzung tagte am 12. November die Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung – deutlich ausgedünnt und durch die Corona-Anforderungen an größere Abstände auch in einem ungewöhnlich schönen Ort: Dem Friedrich-von-Thiersch-Saal im Kurhaus. Neben ausgedünnten Fraktionen beschloss der Ältestenrat mit Blick auf die Pandemie weitere Grundsätze für die Tagung: Die Beschlussfähigkeit wird anfänglich festgestellt – aber danach nicht mehr angezweifelt. Es erfolgen keine namentlichen Abstimmungen, Abstimmungen erfolgen grundsätzlich fraktionsweise1Fraktionsweise Abstimmungen bedeutet: Fraktionen stimmen geschlossen für oder gegen einen Antrag (oder enthalten sich). . Auch die Bürgerfragestunde entfiel.

Die öffentliche Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung am 12. November 2020 findet sich hier: (Link)

Verkehrlich dominierten zwei Themen die Debatte: Die beantragte Zusammenlegung von Stadt- und kommunaler Verkehrspolizei und das Mobilitätsleitbild. Daneben fand der Antrag für ein Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof einstimmige Unterstützung. Online abrufbare Zuarbeiten bieten zudem drei interessante Einblicke ins Detail: (1) Die Kriterien, nach denen die ESWE Verkehr neue Bushaltestellen und Linien bewertet, (2) die Baukosten der Boelckestraße und (3) die Kosten des anvisierten P+R-Parkplatzes an der Schiersteiner Brücke.

Mobilitätsleitbild

Trotz Differenzen kamen die Parteien einen Schritt weiter – so schreibt es der Wiesbadener Kurier am 13 November (Entwurf des Mobilitätsleitbilds sorgt wieder für Diskussionen). Inhaltlich fasst dieser Artikel bereits vieles Zusammen – hier will ich daher im Wesentlichen ein paar O-Töne der Diskussion ergänzen.

Grundsätzlich ging es bei der Abstimmung um das Vorhaben, das Wiesbadener Mobilitätsleitbild, welches in mehreren Monaten von Dutzenden Institutionen und Vertretern der Zivilgesellschaft entwickelt wurde, einen Schritt weiter zu bringen: In die Vorstellung und Diskussion mit Bürgern und Ortsbeiräten. Das schmeckte nicht allen – vor allem denen nicht, die mit den Inhalten nicht einverstanden waren. Dennoch wurde der Antrag, mit den MLB-Ergebnissen in die Diskussion mit den Ortsbeiräten zu treten, schließlich mit Stimmen von Grünen, Linken, SPD, CDU, BLW, FW, LKR und ULW angenommen.

Das Mobilitätsleitbild hat durch den Bürgerentscheid einen Volltreffer erlitten. Aber es ist weiter hilfreich, denn der Analyseteil stimmt nach wie vor.

Dr. Gerhard Uebersohn, SPD.

Sie von der Kooperation betreiben eine Politik, die darauf aus ist, einen bestimmten Verkehrsträger zu vertreiben – und nennen es Verkehrswende.

Alexander Winkelmann, verkehrspolitischer Sprecher, FDP.

Das Mobilitätsleitbild fordert: Weg von der autogerechten Stadt, aber nicht hin zur autofreien Stadt.

Dr. Gerhard Uebersohn, SPD.

Wir können auf unsere Bürger stolz sein; in ihrer Teilnahme am Prozess des Mobilitätseitbildes zeigt sich herausragendes Engagement.

Sarah Weinerth, CDU.

Die Verkehrsprobleme dieser Stadt sind doch durch die Abstimmung nicht verschwunden.

Nadine Ruf, SPD, zur Ablehnung der CityBahn per Bürgerentscheid.

Wenn es eine Partei gibt, die die Lobby für den motorisierten Individualverkehr in Wiesbaden bildet, dann die Freien Demokraten.

Christian Diers, Fraktionsvorsitzender FDP, kurz nachdem er von einem „Krieg gegen das Auto“ redete

Sie bedienen hier einen ganz billigen Antikommunismus.

Brigitte Forßbohm, DIE LINKE, als Reaktion auf die Äußerungen der FDP, dass die Ähnlichkeit des Mobilitätsleitbildes mit den politischen Zielen der Linken dessen Konsensfähigkeit schadet.

Der Einstieg in das Mobilitätsleitbild erfolgte nur, weil die Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung unbedingt eine Schiene durch die Stadt ziehen wollte.

Christian Diers, FDP.

Es ist eine Unverschämtheit, dem Papier Ideologie zu unterstellen.

Christiane Hinninger, Grüne, zu den Vorwürfen der FDP, dass Mobilitätsleitbild sei ein einseitig-politisches Produkt.

Ich weiß nicht so recht, was die Ortsbeiräte dazu beisteuern sollen.

Alexander Winkelmann, FDP, über das Ziel des Antrags, mit den Inhalten des MLBs in die Diskussion mit den Ortsbeiräten zu treten.

Eine Erwähnung ist darüberhinaus aber auch die in der MLB-Debatte angeführte Argumentation vom FDP-verkehrspolitischen Sprecher, Alexander Winkelmann, wert.2Mein Vorsatz, die FDP nur ebenso kritisch zu betrachten wie die anderen Parteien, gelingt mir (noch) nicht ganz. Ich bemühe mich um Besserung. Dort unterstrich er nochmal die Unterstützung der FDP Wiesbaden bei der (baulichen) Trennung der verschiedenen Verkehrsmittel – soweit, sogut. Und schließlich konform mit dem FDP-Kommunalwahlprogramm 2016.

Um den Busverkehr in Wiesbaden zu fördern, wollen wir zusätzliche Busspuren einführen und das Zuparken dieser speziellen Spuren durch Abtrennung verhindern.

FDP-Kommunalwahlprogramm 2016

Nur zwei Sätze später aber lehnte er zwei Maßnahmen ab, die aber genau diese Trennung beinhalten: Die neuen Radwege in der Sonnenberger Straße (teilweise realisiert als protected bike lanes) und die im Rahmen des diskutierten BRT notwendige Einrichtung zusätzlicher Busspuren. Zweiteres sei ohnehin nur eine „Drohkulisse einiger Pro-CityBahn-Aktivisten“ in Folge eines ideologisch-manipulativ besetzten, wissenschaftlichen Beirates des Mobilitätsleitbildes. Dass die BI Pro CityBahn die Alternative „BRT“ mit Ihren Vor- und Nachteilen bereits im September 2019, also deutlich vor den Ergebnissen des MLB, diskutierten und als wahrscheinlichsten Plan B präsentierten, sei hier nur eine Notiz am Rande.

Fusion Stadt- und kommunale Verkehrspolizei

Exklusiv für Wiesbaden entwickelt:
Die Straßenverkehrsempfehlung.

Eröffnet wurde die Stadtverordnetenversammlung mit deinem Antrag der FDP (TOP 4: 20-F-05-0011), die kommunale Verkehrspolizei (Dezernat V, Andreas Kowol, Grüne) und die Stadtpolizei (Dezernat II, Oliver Franz, CDU) wieder zu fusionieren. Die für Bürger nicht immer ganz nachvollziehbare Trennung der Zuständigkeiten und unterschiedlicher Erreichbarkeiten führte immer wieder zu Irritationen – obgleich sich diese Trennung in anderen Städten bewährt habe.

Nicht trivial gestaltet sich aber die Messung der Effektivität dieser Trennung – und so konzentrierte sich die FDP in der Argumentation auf den stattgefundenen Personalaufbau bei gleichzeitigem Rückgang an Einnahmen – also Bußgeldern. Rückläufige Bußgelder sind allerdings nicht automatisch ein Indikator für weniger effektive Kontrollen – sie könnten auch auf eine steigende (Verkehrs-)Regeltreue hinweisen. In Wiesbaden ist das aus subjektiver Sicht aber eher nicht der Fall.

Schließlich einigten sich CDU, SPD und Grüne darauf, den Antrag als „per Aussprache erledigt“ und verschoben die Diskussion über eine etwaige Fusion auf nach der Kommunalwahl. Dagegen stimmte neben der FDP die Linke, für die die Trennung auch ein ineffektiver Ausdruck der Law & Order-Politik der CDU sei.

Weitere Einblicke

20-V-05-0038 – Anfrage zu Buslinien

Anfrage

Immer wieder gibt es beim Ausbau der regionalen Buslinien die sogenannten Probebetriebe für Linien und Bushaltestellen, die dann, zu einem gewissen Zeitpunkt eingestellt oder verstetigt und in den regulären Fahrplan übernommen werden.

Der Magistrat wird daher um Beantwortung der folgenden Fragen gebeten:

  1. Welche Parameter werden für die Einrichtung/Beibehaltung von Buslinien, Haltestellen inklusive jeweiligen Haltestellen oder geänderten der Streckenführung (Beibehaltung/Ergänzung/Wegfall) als Entscheidungsgrundlage genommen? In welchem Zeitabstand werden diese jeweils überprüft?
  2. Gibt es dabei eine Gewichtung der jeweiligen Parameter? Wenn ja, in welcher Form?
  3. Beispielhaft soll die Entscheidungsfindung an der Buslinien 8 und 23 dargestellt werden.
  4. Welche Rolle spielen bei der jeweiligen Entscheidung verkehrstechnische oder finanzielle Aspekte?

Zu 1:

Sowohl für neue Buslinien (inklusive der gegebenenfalls notwendigen Bushaltestellen) als auch für neue Bushaltestellen gilt, dass durch Einrichtung ein Mehrwert für die Wiesbadener Bevölkerung generiert werden muss. Dies kann zum Beispiel das Schaffen von neuen umsteigefreien Verbindungen, das Schließen von Erschließungslücken nach dem derzeit gültigen Nahverkehrsplan der Landeshauptstadt Wiesbaden oder die bessere Anbindung von stadt- oder ortsbezirksrelevanten Infrastrukturen sein. Die probeweise Einrichtung von Buslinien und einzelnen Bushaltestellen kann dabei auf Grund von politischen
Beschlussfassungen oder auf Initiative der ESWE Verkehrsgesellschaft mbH erfolgen.
Auf Grund der vielfaltigen Stadtstruktur Wiesbadens gibt es als Entscheidungsgrundlage für die Beibehaltung oder Aufhebung von neuen Buslinien oder einzelnen Bushaltestellen keine stadtweit gütigen Kennzahlen. Vielmehr werden für die Entscheidung weichere Faktoren zur
Hand genommen. Dies ist zum Beispiel die Nutzung einer Haltestelle im Vergleich zu anderen Haltestellen die sich in unmittelbarer Nähe befinden, oder ob durch die Einrichtung einer Haltestelle eine per Nahverkehrsplan der Landeshauptstadt Wiesbaden definierte Erschließungslücke geschlossen werden kann.

Zu 2:

Die am höchsten gewichteten Parameter bei der Überführung einer Buslinie in den Regelbetrieb sind die Fahrgastzahlen und ob durch die neue Linie/ den neuen Linienast eine Erschließungslücke im Streckennetz geschlossen werden kann. Bei der Überführung einer einzelnen Bushaltestelle in den Regelbetrieb sind diese Kriterien ebenfalls als wichtigste Faktoren anzusehen. Selbstredend werden auch die tatsächlichen Kosten einer Maßnahme stets in die Beurteilung mit einbezogen, wobei besonders teure Maßnahmen, deren Potenzial
lediglich als gering eingestuft wird, bereits vor der Umsetzung scheitern.

20-V-66-0307 – Bauabschnitt 2 (Boelckestraße)

Die Ausführungsvorlage zum 2. Bauabschnitt der Boelckestraße (zwischen Ernst-Galonske-Straße und der ASt A671) beinhaltet eine Kostensteigerung gegenüber den ursprünglich beschlossenen Mitteln. Stadt der im September 2019 beschlossenen 5.200.000 Euro für den zweiten Bauabschnitt werden nun knapp 6 Millionen Euro veranschlagt, was einer Steigerung von 15% entspricht. Ursache seien hier ungeplante Anforderungen an die Straßenentwässerung.

Insgesamt ging der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung aus 2019 von Gesamtbaukosten in Höhe von 14,065 Millionen Euro aus, davon 5,1 Millionen Euro Fördergelder aus dem (dato gütigen) GVFG. Der Förderbescheid steht aus, das finanzielle Risiko für die Stadt i.H.v. 5,1 Millionen Euro besteht also weiter.

20-F-21-F0049 – Finanzmittel P+R Schiersteiner Straße

Ein neuer, geplanter P+R-Parkplatz im Bereich der Schiersteiner Brücke wird mit knapp 4,2 Millionen Euro Baukosten veranschlagt. Bei 450 bis 470 geschätzten Parkplätzen ergeben sich Baukosten von knapp über 9.000 Euro pro Parkplatz.

Liste aller verkehrsrelevanten Anträge/Vorlagen

NummerTitel
20-V-05-0012Entwurf eines Mobilitätsleitbildes für die Landeshauptstadt Wiesbaden
20-F-21-0026Fahrradparkhaus am Wiesbadener Hauptbahnhof
20-V-05-0038Buslinien; Anfrage Nr. 212/2020 der Fraktion FREIE WÄHLER(siehe unten)
20-F-20-0015DB-Reisezentrum im Hauptbahnhof auch sonntags öffnenÜberwiesen vom Verkehrsausschuss
20-F-20-0016Radwegverbindungen Elisabeth-Selbert-SchuleÜberwiesen vom Verkehrsausschuss
20-F-21-0049Mittelzusetzung für die Herstellung eines P&R-Parkplatzes im Bereich der Schiersteiner Brücke
20-V-05-0005Fahrplanwechsel am 13.12.2020
20-V-05-0040Finanzierung ÖPNV/ESWE Verkehr im Haushalt 2021
20-V-66-0307Vierstreifiger Ausbau der Boelckestraße, 2. Bauabschnitt zwischen Ernst-GalonskeStraße und der Anschlussstelle der A 671
 20-V-66-0224Karl-Drebert-Straße – Benutzerfreundlicher Ausbau der Haltestelle Karl-Drebert-Straße
20-V-05-0034Ergänzung der Sondernutzungssatzung um die Nutzungsmöglichkeit Carsharing
20-F-05-0063Bürgerentscheid umsetzen – Citybahn GmbH abwickeln – Neustart für die VerkehrspolitikÜberwiesen vom Verkehrsausschuss

Zu 3:

Auf Grund der positiven Entwicklung der Fahrgastzahlen während des Probebetriebs und der Tatsache, dass durch den Linienast der Linie 8 über das Komponistenviertel eine Erschließungslücke der Kategorie 1 – Die Behebung dieser Kategorie ist mit hoher Priorität zu verfolgen – geschlossen werden konnte, wurde dieser Linienast zum 08. Dezember 2018 in
den Dauerbetrieb überführt.

Auf der Linie 23 kam es in den vergangenen Jahren zu keiner Anpassung des Fahrweges. Auf Grund der langwierigen Sperrung der Susannastraße wurde lediglich lange Zeit eine größere Umleitung gefahren.

Zu 4:

Eine Aufwertung des Wiesbadener ÖPNVs ist aus verkehrstechnischer Sicht die Grundlage allen Handelns der ESWE Verkehrsgesellschaft mbH und spielt somit auch bei der Beibehaltung und den Wegfall von Buslinien und Haltestellen eine fundamentale Rolle. Das Handeln wird dabei jedoch nie isoliert von den anfallenden Kosten betrachtet, sodass sowohl
bei der Etablierung eines neuen als auch bei Bewertung des bereits bestehenden ÖPNV-Angebotes die Wirtschaftlichkeit Einfluss auf die Entscheidungsfindung hat.


mathias

Aufgewachsen in Berlin, seit über einem Jahrzehnt Wahl-Wiesbadener. Eigentlich Nordost, im Herzen aber Westend. Regelmäßiger Radler und Carsharing-Nutzer, (zu häufig) auch E-Scooter. Ehem. Verkehrsplaner (SGV). Faible für Daten, Karten und Grafiken.

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Claudio

Super Sache mit dem Fahrradparkhaus. Ich hätte ja gerne Fahrradständer vor dem Kino in der Moritzstr. und melde mich dazu mal beim Radbüro.

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